FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1982 - 1995 » Jahrgang 1989 » No. 432
Hans Gerhard Zeger

Gezählt und zu leicht befunden

Theorie & Praxis der Datenwut in History & Gegenwart

In der Stadt sind nicht nur die klassischen ökologischen Probleme (Müll, Luft, Wasser, Lärm, Straßenverkehr) größer als auf dem Land, auch die anonyme und automatische Datenerfassung und Kontrolle ist umfangreicher.

Hitler hat uns nicht nur Autobahnen beschert. Neben den Grauen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts an Millionen Menschen, blieben einige „Errungenschaften“ der Verwaltungsadministration, die auch heute noch fraglos (von der Bevölkerung) und freudig (von politisch Verantwortlichen) übernommen wurden. Demoskopie, Meldewesen und Volkszählung, im 1000-jährigen Reich zur Systematısierung der Menschjagd, zur Rekrutierung von Kanonenfutter und zur Ausschöpfung letzter Menschenreserven perfektioniert, sind auch heute unentbehrliche Mittel zur Massenlenkung geblieben.

Kriegsführung

10. Jänner 1941, seit acht Monaten sind die Niederlande von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Für die holländischen Juden, Viertel- und Halbjuden wird ein Melderegister eingeführt. Im August 1941 war dieses Register, das 160.820 Namen umfaßte, fertig.

Die für damalige Verhältnisse rasche Erfassung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe durch eine ausländische Besatzungsmacht war durch gründliche Vorarbeiten der Niederländer selbst ermöglicht worden.

Bis zur deutschen Okkupation galten die Niederlande als Musterland der Statistik und Volkszählung. Schon 1829 wurde die erste umfassende Volkszählung durchgeführt. Früher waren nur die USA (1790) dran. Österreich folgte 1869, erst zwei Jahre später führte Deutschland die erste umfassende Volkszählung durch.

1930 wurde in den Niederlanden ein einheitliches Personenkartensystem geschaffen, das neben dem Namen Angaben über Beruf, Religion, Behinderungen usw. in einer standardisierten Form enthielt. Dieses staatliche Volksregister, ursprünglich zu Planungszwecken gedacht, diente neben den Meldescheinen, den Kirchenbüchern und den Beschneidungslisten der jüdischen Gemeinden als Grundlage für die Erfassung der Juden.

Die Niederlande boten ideale bürokratische Voraussetzungen für die Durchführung eines staatsgelenkten Terrors. Als 1944 die NS-Besatzung die Neuerfassung (Neuinventur) der niederländischen Bevölkerung versuchte, stieß sie auf massiven Widerstand. Rauter (SS- und Polizeiführer der Niederlande) berichtet an Himmler von Anschlägen gegen die Bevölkerungsregister.

Trotz der technischen Unzulänglichkeiten zeigt die Methode der Registrierung typische Grundstrukturen: Die Datenerfassung erfolgt in einem Doppelschritt.

Personenerfassung

Zuerst kommt die buchhalterische Erfassung der Bevölkerung (nach möglichst objektiven Kriterien). Dagegen läßt sich schwer argumentieren: Wer kann schon Böses sehen, seinen Beruf, seine Religionszugehörigkeit, seine Krankheiten anzugeben, wenn die Fakten tatsächlich zutreffen. Die buchhalterische Erfassung der Bevölkerung erweckt wenig Mißtrauen. Zur Absicherung der Ergebnisse werden unverdächtige, weil notwendige Datenbestände aufgebaut: Melderegister, Volkszählungen, Wählerevidenzen, Haushalts- und Wohnungslisten. Ziel dieser Datenbestände ist ihre Vollständigkeit. Eine bürokratische Utopie, die in früheren Jahren kaum erreicht wurde. Durch Wohnungs- und Ortswechsel konnte das System der Erfassung empfindlich gestört werden. Nur allzuleicht entschlüpfte der Einzelne dem überforderten bürokratischen Apparat.

Die Geschichte der Individualstatistik ist daher auch eine Geschichte der laufenden Verschärfung der Melde- und Zählungspflichten des Bürgers. Erst seit 6.1.1938 gab es in Deutschland ein reichseinheitliches Meldegesetz. Mit den Kriegsvorschriften wurde im September 1939 die Meldefrist von einer Woche auf drei Tage verkürzt, später auf 24 Stunden.

In Österreich erfolgte im Jänner 1938 eine Änderung des Melderechts: Hielt sich jemand länger als sechs Monate in einem Ort auf, dann unterlag er der Meldepflicht. Nach der Annexion erbte Österreich auch das deutsche Melderecht. 1947, nach Kriegsende, wurde die kriegsbedingte 24-Stundenfrist gerne beibehalten und 1954 gar auf drei Tage ausgeweitet.

Erst im Juli 1938 wurde in Deutschland eine Ausweispflicht eingeführt. Bis dahin war es üblich, sich mündlich auszuweisen. Aly/Roth:

Ein Recht des Staates, seine Bürger jederzeit zu identifizieren, war weder bekannt noch akzeptiert.

Personenselektion

Die Mitwirkungsbereitschaft der Bevölkerung bei Datenerhebungen war immer unsicher. Der eigentliche Vorgang der Selektion, der Absonderung, der gezielten Erfassung, wird daher möglichst unabhängig von den betroffenen Personen selbst gemacht.

In Österreich beispielsweise scheiterte bei der Volkszählung 1923 der Versuch, über die Frage nach der Rassenangehörigkeit Österreichs Juden auszugrenzen: Verschiedene liberale Zeitungen forderten ihre Leser auf, diese Frage mit weiß zu beantworten. Mit dem Ergebnis, daß die weiße Rasse in Österreich so weit verbreitet war wie das Einflußgebiet dieser Zeitungen. Ein ähnliches Ergebnis war der außerordentlichen Volkszählung 1976 beschieden. Durch die Frage nach der Muttersprache wurde versucht, Österreichs Slowenen und Kroaten festzustellen, zu lokalisieren und letztlich auszugrenzen. Bei der geheimen „Abstimmung“ ergaben sich in vielen Orten willkürliche Ergebnisse.

Störfaktor Mensch

Die Spitze von Bürokratie und Technokratie, in den Niederlanden personifiziert durch den Direktor der „Reichsinspektion für das Bevölkerungsregister“ Lentz, ist allemal bereit, den jeweiligen Machthabern mit ihrer Sachkenntnis behilflich zu sein. Aus eigenem Antrieb entwickelte er neue, verbesserte Ausweise, die auch die Berliner NS-Volkszähler tief beeindruckten.

Je größer der Personenkreis ist, der an der Durchführung der Erfassung mitzuwirken hat, desto unsicherer wird das Ergebnis. Eine der Schwachstellen der heutigen Volkszählungen sind die 70.000 (in Österreich) oder 700.000 (in der BRD) amtlichen Zähler.

Der Abgleich der Datenbestände, der in den Niederlanden 1940 noch händisch erfolgte, einige Monate dauerte und einige tausend, zumindest pflichterfüllende, Personen benötigte, dauert heute, bei den vorhandenen elektronischen Dateien, wenige Minuten und benötigt kaum ein Dutzend Leute.

Die Bedeutung vollständiger Individualstatistiken ist an einem zweiten Beispiel aus der NS-Zeit ablesbar: Auf der Basis der Haushaltslisten des Jahres 1925 erfolgte am 16.6.1933 die erste Volkszählung unter dem NS-Regime. 500.000 Zähler sollten für Vollständigkeit sorgen. Eine der unmittelbaren Konsequenzen dieser Volkszählung war die Durchführung des im Juli 1933 erlassenen Gesetzes über die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft. Wer einen ausländischen Geburtsort angegeben hatte, vor 1918 geboren war und die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, wurde aus der Staatsbürgerschaftsevidenz herausselektiert (genau 16.258 Menschen). Durch andere Auswertungen wurden Juden, Ausländer usw. herausselektiert. Über die Verknüpfung mit dem ausgeübten Beruf konnte berechnet werden, welche arbeitsmarktpolitische Konsequenzen das Hinausdrängen einzelner Bevölkerungsgruppen hatte: 1933 arbeiteten im Deutschen Reich 6488 jüdische Ärzte, bis 1936 prognostizierte die Statistik einen Überschuß von 4900 frisch ausgebildeten Arzten. Argumentationsformeln, die auch heute wieder aktuell zu werden drohen (Arbeitslose und Gastarbeiter werden gegeneinander aufgerechnet).

Bürokratische Phantasien

Sicher waren die Lentz’s, die Koller’s, Zahn’s, Cuntz’s und Burgdörfer’s keine Mörder, oft nicht einmal Nazis und sicher war die Optimierung der Individualstatistik nicht ausschlaggebend für die Vernichtung von Millionen von Menschen. Daß die Maschinerie derartig gut funktionierte, die Ausgrenzung dermaßen objektiv erfolgen konnte, war auch diesen Schreibtischtätern, die bloß ihre Zahlenkolonnen, ihre optimalen Formulare und perfekten Personalausweise sahen, zu verdanken. Und es dürfte nicht ganz zufällig sein, daß die Segnungen der Individualstatistik vom nachfolgenden demokratischen Staat bereitwillig übernommen wurden.

Wenn es gilt, den Anfängen zu wehren, so bedeutet dies auch, im Aufbau individueller Datenbestände äußerste Vorsicht walten zu lassen. Die elektronischen Datenverarbeitungen ermöglichen weitergehende Individualiserungen und Selektionen. Es genügt daher nicht mehr, bloß die eigene Lauterkeit der Absichten zu beteuern, sondern jeder Gesetzgeber muß sich die Frage stellen: „Wie kann ich meine Datenbestände organisieren, damit sie nicht mißbraucht werden können? Auf welche Erhebungen, so interessant sie sein mögen, verzichte ich grundsätzlich?“ Wenn heute der Begriff der „Verantwortung“ zur Diskussion steht, darf nicht nur rückwärtsgewandt vergangenes Unrecht betrachtet werden, es steht auch die Frage zur Diskussion: „Mit welchen Tätigkeiten fördere ich zukünftige Mißbräuche?“

Zählt das Volk!

In der BRD ursprünglich für 1981 angesetzt, mußte sie vorerst wegen Streit zwischen Bund und Ländern um die Kostenaufteilung auf 1983 verschoben werden. Dann regte sich Widerstand. 1223 Beschwerden überschwemmten das Bundesverfassungsgericht. Das Urteil vom 15.12.1983 stellte grobe Mängel fest, postulierte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Weiters wurde festgestellt, daß diese Erfassung prinzipell notwendig sei. Am 25. Mai 1987 startete die Großzählung, doch kann sie bis zum heutigen Tag als nicht beendet betrachtet werden. Die Gerichte sind noch monatelang mit unzähligen Verfahren eingedeckt.

... und in Östereich?

Die Volkszählung soll als Totalerhebung zu einem bestimmten Stichtag alle im Staatsgebiet befindlichen Personen zählen. Die gesetzliche Grundlage für die Volkszählung 1981 bildete das

Volkszählungsgesetz 1980

Wir zitieren auszugsweise:

§ 2. (1) Das Ziel der Volkszählung ist die Ermittlung der Zahl und des Aufbaus der Wohnbevölkerung im ganzen Bundesgebiet.

(2) Zu diesem Zwecke können an die zu zählenden Personen Fragen nach Namen, Geschlecht, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand, Kinderzahl, Religionsbekenntnis, Umgangssprache, Staatsangehörigkeit, Schulbildung, Berufsausbildung, Beruf, Beschäftigung, Aufenthalt und Wohnsitz gestellt werden.

§ 4. (3) Sollten bei der Volkszählung gemachte Angaben auch für andere als statistische Zwecke Verwendung finden, so ist dies durch ein besonderes Bundesgesetz ausdrücklich anzuordnen.

Das Land der Datensammleridylle brachte die Volkszählung ohne nennenswerte Diskussion über Sinn und Zweck dieser Globalerfassung hinter sich. Einzig die Erfassung der Umgangssprache schlug bei den Kärtner Volksgruppen hohe Wellen.

In der BRD hatte die Diskussion um die Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises die Bevölkerung sensibilisiert. Die Zusammenarbeitsgesetze, die den ungehinderten Datenfluß zwischen Polizei, Geheimdienst und Behörden legalisierten, taten ihr übriges.

Die erhobenen Daten dienen zur Feststellung des Finanzausgleiches zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Hier kommt es auf jeden Kopf an! Darüber hinaus werden die Ergebnisse zur Neuberechnung der Mandatsverhältnisse im National- und Bundesrat verwendet.

Das Statistische Zentralamt kann mit den Ergebnissen beliebige statistische Auswertungen durchführen. Wer nun glaubt, daß das alles ist, was mit den Volkszählungsdaten geschehen darf, irrt. Per einfachem Bundesgesetz können aus den Volkszählungsdaten jederzeit personenbezogene Auswertungen selektiert werden!

Gleichzeitig fand 1981 die Arbeitsstätten-, die Häuser- und Wohnungszählung statt.

Was wurde erhoben?

Zum Beispiel im Personenbogen: Name, Anschrift, Geschlecht, Geburtsdatum, Familienstand, Datum der Eheschließung, Datum der ersten Eheschließung, Anzahl der lebendgeborenen Kinder, Geburtsdaten der vier zuerst geborenen Kinder, Religionsbekenntnis, Umgangssprache, Wohnort vor 5 Jahren, Ausbildung, Lebensunterhalt, Berufsbezeichnung, stichwortartige Beschreibung der beruflichen Tätigkeit, Firmenname/Schultyp/Fakultät, Branche, Weg zur Arbeitsstätte/Schule, Anschrift Arbeitsstätte/Schule, Nebenerwerbstätigkeit.

Trotz gegenteiliger Beteuerungen mancher Politiker wurden mehr Fragen als in der BRD erhoben.

Gezählt wird gemeindeweise. Über die Bezirkshauptmannschaften gelangen die Bögen letztlich in das Statistische Zentralamt. Zur Durchführung dürfen die Gemeinden jeden brauchbaren Österreicher zwangsrekrutieren (beliebt ist die Verpflichtung von Gemeindebeamten)! Das in der BRD verordnete Trennungsgebot zwischen Verwaltung und Volkszählung wird in Österreich nicht einmal in der Theorie angestrebt: Gemeindebeamte, die in Verwaltungsbereichen Exekutive darstellen, können Einblick in die Verhältnisse ihrer Klientel nehmen. Auch die Richtigstellung einzelner Daten erfolgte durch pflichtbewußte Zähler. Wie steht’s im Schnüfflerhandbuch, pardon, im behördlichen: Leitfaden für Zähler?

8.3 Ersatzausfüllung: Sollten Sie — trotz wiederholter Bemühungen — keinen Auskunftspflichtigen erreichen, so versuchen Sie, so viele Fragen wie möglich aufgrund von Befragungen der Nachbarn oder des Hausbesorgers sowie mittels Augenschein zu beantworten. Weitere Informationen sind unter Umständen aus den Unterlagen am Gemeindeamt zu erhalten. ... Offensichtlich falsche Markierungen [Angaben durch den Betroffenen, Anm.] sollen ausradiert und richtiggestellt werden!

Bevor die Hausmeisterin Ihren Bogen ausfüllt, sollten Sie ihn lieber selbst richtig ausfüllen. Die Gemeinden sind bei fehlenden Angaben berechtigt, den Haushaltsvorstand vorzuladen. Dieser hat dann die notwendigen Dokumente mitzubringen. Falls die Gemeinde nicht lieber auf die Dienste der Hausmeister zurückgreift.

Datensalat

Die Auswertung fällt in die alleinige Kompetenz des Statistischen Zentralamts. Die Bögen werden von angelernten, vielfach ungeschulten (D- und E-) Beamten codiert, anschließend maschinell eingelesen und EDV-technisch ausgewertet. Die gesetzliche Aufbewahrungsfrist der personenbezogenen Datenblätter beträgt zehn Jahre.

Die Volkszählungsdaten werden mit Mikrozensusdaten [Zählung einer kleinen Personengruppe, jedoch größerer Fragenumfang, Anm.] kombiniert. Vor der endgültigen Auswertung durchlaufen die Daten umfangreiche Plausibilitätsprogramme (Aufgepaßt: Wer ledig einträgt, vermeide die Angabe des Hochzeitsdatums!). Die Daten werden auf innere Widersprüche überprüft. Fehlende Angaben werden aus anderen Angaben abgeleitet oder nach statistischen Verfahren geschätzt. Überblickstatistiken werden publiziert und sind über die Österreichische Staatsdruckerei erhältlich. Detailliertere Daten und Tabellen sind über das Informationssystem ISIS zugänglich. Für besonders datenhungrige Kunden werden auch Sonderauswertungen gemacht. Nach Aussagen der Statistiker können regionale Gliederungen auf Häuser genau definiert werden.

Die Gemeinde Wien beschwert sich

Da der Finanzausgleich direkt von der ermittelten Einwohnerzahl abhängt, wurde der Konkurrenzneid den zählenden Gemeinden entfacht. Streitpunkt waren die Zweitwohnungsbesitzer. Klein- und Kleinstgemeinden versuchen oft, die Wochenendhausbesitzer dazu zu bewegen, ihre Freizeitdomizile als Hauptwohnsitz zu deklarieren. Wien, Linz und andere glaubten, daß sich zu wenige Bürger für ihre Städte entschieden hätten und gingen daher zum Verfassungsgerichtshof. Dieser gab diesen Beschwerden recht. Die Gemeinde Wien warf den Statistikern vor, die Volkszählung bloß (!) als Tatsachenmitteilung betrachtet und die Angaben des ordentlichen Wohnsitzes unhinterfragt übernommen zu haben. Das Volkszählungsgesetz ermächtige jedoch das Statistiısche Zentralamt, zur Datenberichtigung behördliche Erhebungen durchzuführen. Ferner dürfe der Befragte bei Besitz mehrerer Wohnungen nicht nach eigenem Gutdünken aussuchen, welcher der Hauptwohnsitz ist. Er muß jenen angeben, der nach objektiven Kriterien der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen ist.

Von 53.600 Reklamationen stammen alleine rund 30.000 von der Gemeinde Wien. Wie kam sie bloß hinter diese Falschangaben?

Die Gemeinde Wien beauftragte ihre Zähler, 12 Zusatzfragen zu stellen (z.B. Besuch eines Wiener Kindergartens, Wiener Wohnsitzfinanzamt, geförderte Wohnung, Arbeitsplatz in Wien, ...). Zusätzlich verknüpfte sie die Volkszählungsdaten mit anderen Dateien, z.B.

  • Beanspruchung von sozialen Diensten, Datei der Beihilfenempfänger (1.401 Fälle)
  • Wiener Melderegister (28.225 Fälle)
  • Eintragung in der Wiener Wählerevidenz (10.780 Fälle)

Somit wurden, wie die NO-Landesregierung in ihrer Stellungnahme einwarf, offenbar andere Daten im automationsunterstützten Datenverkehr mit Volkszählungsdaten verknüpft. Dies ist gemäß Datenschutzgesetz als Übermittlung anzusehen, für die jedoch jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dem widersprach der Verfassungsgerichtshof, da die Gemeinde WIen in Erfüllung eines gesetzlichen Auftrages gehandelt hat.

Hiermit zeigt sich, wie leicht es passieren kann, daß Volkszählungsdaten mit beliebigen anderen Dateien der Behörden verknüpft werden. Irgend ein gesetzlicher Auftrag liegt bei einer Verwaltung immer vor — und zwingend notwendig ist sowieso alles, was sie macht!

Und 1991?

Die Volkszählung bietet den Politikern einen unschätzbaren feingliedrigen Grundstock an sozialen Daten. Beliebt ist die statistische Zuordnung einzelner Wohnblöcke zu Problemgruppen: Alte, Ausländer, Studenten, Grüne, kinderreiche Familien (?).

Das Theater mit dem Zweitwohnsitz soll sich nicht mehr wiederholen. Im neuen Volkszählungsgesetz [Entwurf, Anm.] sind weitere Fragen zur Objektivierung des Hauptwohnsitzes vorgesehen:

§ 2 ... Hat sich eine Person an mehreren Orten niedergelassen, so ist der Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen an dem Ort gegeben, zu dem unter Berücksichtigung ihrer beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung ein überwiegendes Naheverhältnis besteht.

Im § 10 präzisiert das Bundeskanzleramt:

In der Verordnung sind auch Drucksorten zum Zweck der Feststellung des ordentlichen Wohnsitzes von Personen, die mehrere Wohnsitze haben vorzusehen. Hiebei können Fragen nach Namen, Geburtsdatum, Familienstand, Beruf, Nebenerwerb, Art der Unterkunft, Aufenthaltsdauer, Gemeinde des Arbeitsplatzes bzw. der Ausbildungsstätte, nach dem Ort, von wo aus die Personen den Weg zum Arbeitsplatz oder zur Ausbildungsstätte antreten, nach dem ordentlichen Wohnsitz der übrigen Familienmitglieder, nach der Gemeinde der Ausbildungsstätte bzw. des Kindergartens der Kinder sowie nach Teilnahme am Vereinsleben und Ausübung einer öffentlichen Funktion gestellt werden.

Wer wird entscheiden, welche der Angaben für die Wohnsitzfeststellung entscheidend sind, vorrangig sind, und wie die einzelnen Angaben letztlich zu bewerten sind? Erstmal wird über die Köpfe der Bürger hinweg festgestellt, wo sie zu wohnen haben. Ein schwerer Angriff auf die informationelle Selbstbestimmung.

Wie unverschämt, zudringlich und gleichzeitig absurd diese Datensammelwut ist, zeigt sich an der Frage nach Teilnahme am Vereinsleben. Hat der Wiener Eigentumswohnungsbesitzer, der sich am Wochenende im Gramatneusiedler Kleingarten erholt, dort Obmann des Kegelvereins, Kassier des Sparvereins, 12. Schriftführer des Sportvereins und 17. Ehrenpräsident der Freiwilligen Feuerwehr ist, in Wien oder in Gramatneusiedl seinen Hauptwohnsitz?

Wann werden wohl die Fragen nach Beruf und Tätigkeit, die Angabe der Arbeitstätte, der Ausbildung, nach Nebentätigkeit objektiviert werden, sprich, durch neue, umfangreichere Fragenkataloge ersetzt werden?

Wir können nur raten, die Zählungsbögen so auszufüllen, daß sie die Plausibilitätshürden nehmen. Vielleicht können Sie sich bis 1991 zu einer genügend umfangreichen Vereinstätigkeit in Ihrer angestrebten Hauptwohnsitzgemeinde entschließen. Vereine können schon ab drei Personen gegründet werden, die Zahl der Funktionen kann unbegrenzt sein, und dieselben Personen können eine beliebige Zahl von Vereinen gründen. Als typische Vereine schlagen wir vor: ‚Verein der Freunde der Volkszählung‘, ‚Verein zur Förderung objektiver Statistiken‘, ‚Verein der Freunde freier Hauptwohnsitze‘, ...

Bürger an die Leine!

Eine zehnjährig stattfindende Volkszählung bietet immer nur Momentaufnahmen, deren Wahrheits- und Wirklichkeitswert auch von den überzeugtesten Statistikern als eher gering eingestuft wird.

Permanente Beobachtung der Gesamtbevölkerung ist das Zauberwort. Soziometrie das technokratisch-neutrale Werkzeug dazu.

Stockholm 1973: 2000 Personen Jahrgang 1953 werden auf ihr Wahlverhalten hin untersucht. Damit erreicht ein beispielloses Experiment der Datenerfassung, Verknüpfung und Auswertung seinen Höhepunkt. Über einen Zeitraum von 20 Jahren wurde über alle 1953 Geborenen, angefangen von Steuererklärung, über Häufigkeit von Verwaltungsstrafen, Sexual- und Trinkgewohnheiten bis Auswertungen psychologischer Tests, alles greifbare gesammelt. Beschafft wurden die Daten unter anderem über einen Fragebogen, der angeblich Radio- und Fernsehgewohnheiten erkunden sollte. Erst als die Genehmigung der Datenerfassung verlängert werden sollte, flog das Experiment auf und wurde von den Behörden gestoppt. Konsequent der Leiter des Experiments Metropolit:

Wer glaubt über seine Daten frei verfügen zu können, ist ein Phantast.

Wien 1988: Mit rund 120 genehmigten Datenverarbeitungen ist die Stadt Wien führend in der Automatisierung der Verwaltung. Standesamtsdatenbank, Wählerevidenz und Personendatenbank bilden das Grundgerüst, die Basisdatenbestände. Durch ihre Vollständigkeit sollen sie sicherstellen, daß jeder Wiener identifizierbar bleibt. Als Bewohner einer Gemeindewohnung, als Strom-/Gasbezieher, als Verkehrsteilnehmer, als Benützer der städtischen Krankenhäuser gerät der Wiener ebenso in eine der Dateien, wie als Verwaltungsstraffälliger, Geschlechtskranker, als Schwarzfahrer oder wenn er bei der letzten Volkszählung Reklamationen vorzubringen hatte. Für Bezieher von Sozialhilfe, von anderen Beihilfen und von Mündelgeldern sind eigene Dateien vorbereitet. Muß extra erwähnt werden, daß Angestellte und Arbeitssuchende der Gemeinde Wien, Lieferanten, Hausbesitzer, Hundebesitzer und Gewerbebetriebe in eigene Datenbanken kommen? Straßendatenbanken, Dokumentationen über Bauvorhaben und Interessentendateien über Planungsvorhaben komplettieren das Bild einer umfassend automatisierten Bürgerverwaltung.

Daten, wie sie im Stockholmer Experiment extra angehäuft werden mußten, stehen der Wiener Stadtverwaltung praktisch als Nebenprodukt der Verwaltungstätigkeit zur Verfügung. Damit versucht die Gemeinde Wien der Utopie einer vollständig durchrationalisierten Stadtverwaltung immer näher zu kommen.

Die Gemeinde Wien betreibt damit das größte administrative Rechenzentrum in Österreich. Schon 1975 haben auf einer Enquete der „Österreichischen Juristen-Kommission“ Informatikexperten darauf hingewiesen, daß die Trennung von personenbezogenen und nicht-personenbezogenen Daten praktisch nicht möglich ist. Ab einer bestimmten Durchdringung der Verwaltung mit automationsgestützten Verfahren verschwinden die Möglichkeiten, Datenbestände voneinander abzugrenzen. Alle Daten beziehen sich auf alle anderen Datenbestände.

Experimente wie METROPOLIT, gelangen sie an die Öffentlichkeit, stoßen rasch auf einhellige Ablehnung. Wer will sich schon aufgrund von Lebenskarrieren, die in den 50-er Jahren, mit deren spezifischen Umweltbedingungen, gestartet wurden, vorschreiben lassen, ob er ein Verbrecher zu werden hat, alkoholsüchtigt wird oder bloß ein asoziales Element ist. Soziometrisch exakt, unterstützt mit immer leistungsfähigeren Computern, wird bloß die Altendrohung: „Aus dem wird nie etwas!“ auf administrtativ-wissenschaftlicher Ebene wiederholt.

Asozial? Das wird gespeichert!

Zur Vermeidung solch breiter Ablehnung bietet sich an, nur einzelne Personengruppen einer kontinuierlichen und verstärkten Überwachung zu unterziehen. Behinderte, sozial Schwache, per definitionem ungeeignet ihr Leben selbst zu gestalten, sind heute, mangels Rassenlehre und Führerideologie geeignete Zielobjekte der Überwachung geworden.

Salzburg 1989

Im Projektbericht für ein Salzburger Sozialinformationssystem liest sich das so:

Zentrale Voraussetzung und gleichzeitig eine der derzeitigen Schwächen der Sozialplanung ist eine ausgereifte Datenlage.

(S.9)

Was mit dem technizistisch wert-neutralen Terminus „ausgereifte Datenlage“ gemeint sein kann, beantworten die Autoren gleich selbst:

Was es dazu [zur ausgereiften Datenlage, Anm.] benötigt, ist eine gesellschaftliche Dauerbeobachtung, eine Sozialberichterstattung, die alle relevanten Teilbereiche der Sozialpolitik berücksichtigt und vor allem auf die Bedürfnisse der politischen Praxis hin abgestimmt ist.

(S. 9)

Mögliche Mißbräuche einer solchen Dauerbeobachtung werden erst gar nicht diskutiert, einschränkend wird bloß zugestanden, daß mittels einer solchen Vorgangsweise

noch lange nicht gewährleistet, daß die Sozialplanung tatsächlich, wie es die Theoretiker formulieren, zur Sicherung sozialer Errungenschaften, zum Abbau sozialer Benachteiligungen oder gar zu einer Veränderung der Sozialstruktur einer Stadt führen.

(S.9)

Der Theoretiker ist willig, aber der Politiker ist schwach!

Selten zuvor wurden sozialwissenschaftliche Machtphantasien direkter formuliert. Der Soziologe als Datenlieferant im Dienste der „politischen Praxis“. Auch wenn die Autoren, immerhin das Institut für Kommunikationsplanung an der Universität Salzburg, einschränkend feststellen:

Sozialplanung wird die großen sozialen Probleme, denen sich die Kommunen in den nächsten Jahren ausgesetzt sehen werden, sicher nicht lösen.

(S.10)

Übersehen wird von den famosen Experten, daß nicht mehr Daten über das soziale Elend notwendig zu dessen Beseitigung sind, nicht einmal eine Voraussetzung dafür darstellen, sondern der politische Wille zur Lösung der Probleme und eine geeignete Prioritätensetzung bei der Vergabe öffentlicher Mittel.

Je, Häuserblock, wer denkt da nicht sofort an einen elektronischen Blockwart, sollen Daten über die Bevölkerungsstruktur, Haushaltsstruktur, Erwerbsstruktur, Berufsstruktur, Arbeitsstätten, Wohnungsstruktur, infrastrukturelle Ausstattung, Verkehr, politische Partizipation (Wehe du nicht richtig wählen gehen!), Einkommen, Umwelt, soziale Problemgruppen und Soziale Dienste gesammelt werden. Um die Asozialen ins rechte Licht rücken zu können, müssen alle Salzburger erfaßt werden. Nur so können die richtigen wissenschaftlichen Vergleiche angestellt werden.

Weniger detailliert wird jedoch die gesamte Studie, wenn es um die Beschaffung der Überfülle teilweiser sehr sensibler und privater Daten geht. Ganz allgemein werden Großzählungen (Volks, Häuser- und Wohnungszählungen, Betriebsstättenzählungen), kommunale Zählungen, Verwaltungs- und Magistratsdaten und externe Quellen genannt.

Die österreichische Rechtsordnung kennt kein „Häuserblocksystem“ zur Erfassung irgendwelcher Daten. Die Autoren der Studie halten daher auch ausdrücklich fest, daß dieses System erst für die Stadt Salzburg geschaffen werden müßte. Daher, und um diese Aussage schwindeln sich die Autoren der Studie vorbei, müßten alle sozialrelevanten Daten personenbezogen, quer über alle Länder-, Bundes- und Sachkompetenzen hinweg, beschafft werden. Bei der Menge der im 35 Seiten dicken Datenkatalog der Studie ausgewiesenen Daten müßten Daten aus den unterschiedlichsten Sozialversicherungen und Ministerien beschafft werden. Dort wo der Gesetzgeber bewußt Gewaltenteilung betrieben hat, manchmal vielleicht nicht mehr zeitgemäß, manchmal ein wenig ungeschickt, wollen einige Stadtplaner eine neue Datenzentrale schaffen. Dieses Vorhaben ist weder verfassungskonform noch den Interessen der Bürger dienend.

Einkommensdaten, Sozialhilfedaten, Gesundheitsdaten, aber auch Daten über die gesamte Lebensführung werden in ein einheitliches System zusammengefaßt. Angelegt ist die gesamte Überwachung als „statistisches“ System und daher, das soll suggeriert werden, bezüglich des Einzelnen ein anonymes System. Längst sind jedoch die notwendigen EDV-technischen Methoden bekannt, um aus einem derartigen System Problempersonen zu reidentifizieren, das heißt namentlich festzustellen, wer denn der Asoziale in der Salzburger Getreidegasse ist.

Das Schicksal derartiger Planungsmodelle ist voraussehbar. Schon nach kurzer Zeit wird man auch bei diesem System feststellen, daß es nicht detailliert genug ist. Weitere Verfeinerungsstufen, bis letztlich zur personenbezogenen Sozialplanung, stehen dann ins Haus. Auch die angegebene EDV-Ausstattung dürfte eher die „Einstiegsdroge“ für ein größeres System darstellen.

Zitate zum Salzburger Sozialplanungsinformatıionssystem aus: Sozialdaten und Sozialbericht, Salzburg 1989

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1989
, Seite 40
Autor/inn/en:

Hans Gerhard Zeger:

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